Wenn der Vater sich zu Tode säuft und es keiner merkt


Dominik Schottner hat miterlebt, wie der Alkohol seinen Vater zugrunde gerichtet hat. Über die Frage, wie es soweit kommen konnte, hat er ein Buch geschrieben.

Veröffentlicht: Süddeutsche Zeitung, Freitag, 30. Juni 2017

Ein Gemisch aus schwerem Herrenduft, Tabak, Kaugummi und irgendetwas, das er nicht zuordnen konnte. Irgendetwas Muffiges, irgendetwas Unangenehmes. So erinnert sich Dominik Schottner an den Geruch seines Vaters. Später verstand er: Das Komische, das waren große Mengen Alkohol. Bier, Wein, Wodka. Nach und nach richteten sie den Vater zu Grunde.

Bis er an einem Wochenende im Dezember 2012 plötzlich das Telefon nicht mehr abhob, nicht mehr auf E-Mails reagierte, die Tür nicht mehr aufmachte, nicht einmal die Breze, die ihm eine Nachbarin vor die Tür legte, aufhob. "Ihr Vater ist leider verstorben", sagte ein Polizist zu Dominik Schottner am Telefon. "Er hat sich zu Tode gesoffen und keiner hat's gemerkt", sagt Dominik Schottner heute.

Wie wurde aus dem stolzen Vater ein Alkoholiker? Wann ging das los? Trank er kleine Gläser oder große Humpen? Wie war er, wenn er voll war? All diese Fragen ließen Dominik Schottner nicht los. Und dann stellte er sie anderen. Seiner Mutter, der zweiten Frau seines Vaters, Freunden, Bekannten. Daraus wurde zuerst eine Radioreportage und schließlich ein Buch: "Dunkelblau" heißt es und ist dieses Jahr im Piper Verlag erschienen.

Gerade hält Schottner überall in Deutschland Lesungen - in dieser Woche war er in der Grundschule Heimstetten. "Vor keiner Lesung war ich so aufgeregt wie vor dieser", sagt er. Denn diese Grundschule ist Schottners alte Schule. In einem Reihenhaus, nur ein paar hundert Meter entfernt, wuchs Schottner auf. Hier lernte er Fußballspielen, machte sein Abitur. Und hier soff sein Vater, trennten sich seine Eltern. Später lebte der Vater mit einer neuen Frau, bekam ein neues Kind. Doch auch diese Ehe ging in die Brüche.

Dominik Schottner ist Journalist. Und deshalb wollte er nie nur seine persönliche Geschichte erzählen, sondern etwas über die Gesellschaft im Allgemeinen. Und so ist die Veranstaltung eine Mischung aus Vortrag, Dialog mit dem Publikum und kleineren Passagen, die Schottner aus seinem Buch vorliest. "70 000 Menschen sterben jedes Jahr an den Folgen von Alkohol", sagt er, "aber nur 3000 Menschen im Straßenverkehr."

Warum wird man schief angeschaut, wenn man nicht trinkt?

Warum ist Alkoholkonsum so normal? Das Feierabendbier, der gute Rotwein bei intellektuellen Gesprächen, die Weißweinschorle in lauen Sommernächten? Warum wird man schon fast schief angeschaut, wenn man sagt, dass man nicht trinkt? "Alkohol", sagt Schottner, "ist das Schmiermittel unserer Gesellschaft." Und tatsächlich haben viele, die an diesem Abend bei der Lesung sind, etwas zu erzählen. Über die eigene Alkoholsucht. Über den Vater, der früher jeden Nachmittag auf dem Sofa seinen Rausch ausschlief. Über die Schwägerin, die wohl noch heute saufen würde - wenn sie jetzt nicht in einem Pflegeheim wäre - ohne Erinnerung, ohne Orientierung. "Wann ist man denn krank?", fragt eine Zuhörerin. "Wenn man es braucht", antwortet einer, der sich selbst Alkoholiker nennt.

Bei der Lesung hört man auch Teile von Schottners Radioreportage, hört die Mutter erzählen, wie der Vater jeden Morgen frisch rasiert und eingeduftet in die Arbeit ging: "Er war ein Mann, der auf sich geachtet hat." Aber er war auch ein Mann, der sich nach einem langen Arbeitstag zwei, drei Flaschen Weißbier aufmachte und dann noch einen Frankenwein. "Es sah immer so normal aus", sagt die Mutter. "Ich habe ihn nie als jemanden wahrgenommen, der trinkt", sagt der Sohn. Die Familie zerbrach nach und nach. Die Eltern stritten sich immer öfter und - je mehr der Vater getrunken hatte - immer lauter, immer aggressiver.

In der neuen Familie gab es die alten Probleme

Dominik Schottner saß als kleiner Bub oben auf der Treppe und lauschte. Er hörte, wie der Vater seinen Aktenkoffer auf den Tisch donnerte und sah am nächsten Tag zwei große Kuhlen in der Tischplatte. Die Eltern ließen sich scheiden. Der Vater gründete eine neue Familie, wurde arbeitslos und Hausmann. Am Anfang schien das zu klappen, am Anfang schien der Alkohol kein Thema zu sein. Aber dann ging es wieder los. Das Trinken, der Streit. Der Vater versteckte überall im Haus seine Flaschen. Er hatte keine Aufgabe, keine Hobbys, wenig Freunde. "Ich habe mich gefragt, was er eigentlich den ganzen Tag gemacht hat", sagt Dominik Schottner. Es gab einen kleinen Versuch aufzuhören: Er nannte es kontrolliertes Trinken. Und scheiterte.

Nah waren sich Schottner und sein Vater schon lange nicht mehr. Der Vater besuchte ihn nie. Nicht in Heimstetten und später nicht in Berlin. Nur einmal kamen sie sich vor seinem Tod noch näher: Vom Erbe der Großmutter flogen Vater und Sohn nach Mallorca. Sie saßen abends an der Hotelbar. Der Kellner machte Feierabend, vergaß aber, den Zapfhahn abzuschließen. Die beiden zapften sich ein Bier nach dem anderen. Dominik Schottner wusste damals schon, dass sein Vater Alkoholiker war. War es falsch, dass er sich dann mit ihm besoff? Einmal wollte er etwas mit dem Vater teilen, sagt Schottner. Normalität, Nähe. Am Ende war es aber bloß ein Rausch. Der Vater begann zu weinen, an der Brust seines Sohnes. "Das war der innigste Moment, den ich jemals mit ihm hatte. Ich war 31. Er war 60." Zwei Jahre später war der Vater tot.