Veröffentlicht: Welt, Sonntag, 18. Februar 2018
Es ist 6.30 Uhr, im Bauernhaus im Allgäu gibt es Frühstück. Semmeln, Marmelade und Kaffee. 14 Männer sitzen im Esszimmer. Die meisten noch ziemlich jung, nicht älter als 30. Gemeinsam sollen sie, alle freiwillig, ein Jahr auf dem Hof verbringen – ohne Handy, Internet, Zigaretten. Keiner von ihnen sieht heruntergekommen aus. Doch eines haben sie gemeinsam: Sie sind süchtig.
Einer, der sie von ihrer Sucht befreien will, heißt Luiz Fernando Braz. Er führt ein Leben wie ein Mönch: ohne Besitz, ohne Sex, ohne Freundin, ohne Familie. Braz ist 32 Jahre alt und hat das alles aufgegeben, um sich – Tausende Kilometer von seiner Heimat Brasilien entfernt – um drogenabhängige und suchtkranke Männer zu kümmern. Braz lebt mit ihnen und betet mit ihnen.
Mönch darf er sich nicht nennen
Eigentlich ist Luiz Braz Grafiker. Doch diesen Beruf hat er aufgegeben, um ein „gottgeweihtes“ Leben zu führen. Mönch darf er sich nicht nennen, weil er kein Mitglied in einem Orden ist. Er sieht auch nicht so aus. Die Haare zu einem Knoten zusammengebunden, Bart, Jeans, Lederstiefel, Strickpullover – genauso könnte er irgendwo in einer Großstadt hinterm Tresen stehen.
Mehr als hundert solcher Einrichtungen gibt es auf der ganzen Welt. Sie heißen alle Fazenda da Esperança, das ist Portugiesisch und bedeutet Hof der Hoffnung. Den ersten hat ein deutscher Franziskanermönch in den 70er-Jahren in Brasilien gegründet. In der Kapelle hängt ein Bild von ihm mit grauen Haaren und Gitarre in der Hand.
Ausmisten, Holz hacken
Doch kann so ein Konzept wirklich funktionieren? Kann Glaube von einer Sucht heilen? Lässt sich eine Abhängigkeit einfach wegbeten? Das kann man in den kommenden Wochen auf dem Blog der Autorin www.gott-im-abseits.de, der von der Deutschen Bischofskonferenz finanziert wird, nachlesen.
Das Leben auf der Fazenda besteht aus Arbeit: Stall ausmisten, Holz hacken, putzen, kochen, Tiere füttern. Aus Gemeinschaft – ohne die anderen kann man sich auf dem Hof nicht mal ein Butterbrot schmieren. Das Leben ist geprägt von Andachten und Gottesdiensten. Obwohl die Männer nicht unbedingt katholisch sind. Auf dem Hof leben auch Atheisten und Muslime. Sie müssen auch nicht mitbeten, sagt Braz.
Jeden Morgen um sieben Uhr halten die Männer eine Andacht ab. Die Kapelle ist kein kleines Kirchlein auf einem Hügel, sondern befindet sich in dem Bauernhaus. Luiz Braz hat sie gestaltet. Den Altar aus Holz, das Tabernakel mit einer Art Yin-Yang-Zeichen und das Kreuz hat er gebaut. Vor dem Altar steht ein Bild, das Braz gemalt hat: zwei Männer, die sich in den Arm nehmen.
Eine halbe Stunde beten die Männer den Rosenkranz. Nach jedem Amen ist es kurz still, dann geht es wieder von vorne los. Alle machen mit, nur ein junger muslimischer Mann mit dunklen Haaren, dunkler Haut, etwa 18 Jahre alt, sitzt einfach nur da und starrt ins Leere.
Sucht ist Sehnsucht
Luiz Braz sagt nach der Andacht, dass er niemanden missionieren wolle. Wenn jemand keinen Zugang zum Glauben finde, sei das für ihn in Ordnung. Gleichzeitig ist er davon überzeugt, dass das Leben auf dem Hof vielen helfen könne. „Sucht“, sagt Luiz Braz, „kommt von vielen Problemen, klar. Aber vor allem von einer Sehnsucht, einer Leere im Leben.“
Ohne einen Sinn, glaubt er, finde man aus all dem auch keinen Ausweg. Der katholische Glaube sei das Einzige, was er den Jugendlichen anbieten könne. Aber er sagt auch: „Die Fazenda ist nur ein Weg von vielen. Für viele hat es geklappt, manche müssen sich einen anderen Weg suchen.“
Etwa die Hälfte der Männer, sagt Luiz Braz, brechen ihre Zeit im Allgäu vorzeitig ab. Aber 70 Prozent von denen, die durchhalten, würden nicht mehr rückfällig. Luiz Braz ist zwar selbst kein Therapeut, doch er arbeitet mit Psychologen zusammen. Manche der Männer müssen regelmäßig zu einem Arzt in die Sprechstunde. Oft fragt Luiz Braz befreundete Psychologen um Rat.
Nach dem Mittagessen verkriechen sich immer alle in ihr Zimmer. Nur einer kann nicht schlafen: Ivo. Er ist 21, trägt Jogginghose und Dreitagebart. Er sitzt auf der Couch, blättert in der Allgäuer Lokalzeitung. Für ihn ist diese Zeitung der einzige Kontakt zu der Welt, die er so vermisst.
Jedes Wochenende, sagt er, sei er kurz vor dem Abhauen. „Der Samstag war immer so ein schöner Tag Ausschlafen, Fußballschauen, mit Freunden rausgehen. Das fehlt mir so.“
Hier würden die Tage langsam vergehen – ohne Handy, Internet, Fernseher. Und ohne Kumpels. „Ich habe in den letzten sechs Wochen drei Bücher gelesen. Davor waren es vielleicht drei in meinem ganzen Leben.“ Er denke jeden Tag daran, wie es wäre, zu Hause zu sein. Aber auch: „Was ist, wenn ich das Jahr schaffe und dann doch rückfällig werde? Was ist, wenn das alles umsonst ist?“
Ivo war spielsüchtig. Tagsüber schlief er, nachts saß er vor dem Automaten im Casino und türmte Tausende Euro Schulden auf. Er ist hier, weil seine Eltern das so wollten. Nachdem er ihnen viele Jahre nur Ärger machte, will er beweisen, dass er sein Leben unter Kontrolle bekommt. Aber es ist schwierig für ihn. Neulich schrieb er seinen Eltern einen Brief und bat sie, ihn abzuholen. „Vielleicht erlösen sie mich ja“, sagt Ivo und klingt nicht so, als würde er das ernsthaft glauben.
Angst vor Junkies
Luiz Braz gehen solche Geschichten nahe. Er will Bruder für die Männer sein, Vater, Helfer, Freund. Auch, wenn das manchmal schwierig ist. Die Männer, die auf dem Hof ihre Therapie machen, zählen die Tage, bis ihre Zeit hier um ist. Er hat sich für dieses Leben freiwillig entschieden – weil es ihm gefällt.
Braz kommt aus Guaratinguetá, der Stadt, wo der Franziskanermönch Hans Stapel die erste Fazenda gründete. Früher wollte Braz mit den Drogenabhängigen, die dort lebten, nichts zu tun haben. Er fürchtete sich sogar ein bisschen vor ihnen.
Sein erster Besuch war deshalb auch kein freiwilliger: Luiz Braz arbeitete als Grafiker für eine Agentur und bekam den Auftrag, neue T-Shirts für die Fazenda zu gestalten. Danach half er dort jeden Samstag mit. Und schließlich wurde er gefragt, ob er für einen Monat mit nach Deutschland kommen möchte, um zu helfen, den Hof im Allgäu aufzubauen. Das ist inzwischen zehn Jahre her.
Für die Arbeit trennte er sich von seiner Freundin
„Früher wollte ich immer überall der Beste sein, in der Schule, beim Sport, in der Arbeit“, sagt Braz. „Aber eigentlich war ich innerlich leer.“ Auf der Fazenda fand er zum ersten Mal einen Sinn im Leben, der größer war als das kurzfristige persönliche Glück. Er erlebte, dass er Menschen helfen konnte. Und entdeckte darin das, was viele „Erfüllung“ nennen würden.
Luiz Braz fand in Deutschland eine Freundin, doch sie trennten sich, weil er beschloss, sein Leben Gott zu widmen. „Wir haben uns geliebt. Aber ich spürte, dass Gott etwas anderes mit mir vorhat“, sagt Braz.
Bis jetzt musste Luiz Braz seine Entscheidung, ein gottgeweihtes Leben zu führen, vor der Gemeinschaft der Hoffnung, die die Fazendas betreibt, jedes Jahr erneuern. Aber das geht nicht ewig so weiter. Irgendwann muss er sich entscheiden. Er könnte theoretisch seinen ewigen Schwur nächstes Jahr ablegen. Aber wahrscheinlich, sagt er, wartet er noch. Er will nichts überstürzen. „So wie bei einer Hochzeit eben.“
Ein paar Wochen später geht es Ivo, dem jungen Mann, der einmal spielsüchtig war, der sich so sehr nach zu Hause sehnte, besser. Er sei ruhiger geworden, sei nicht mehr so schnell auf 180, sagt er. Woran das liegt? „Ich weiß es nicht.“ Vielleicht sei es eine Mischung aus allem hier. „Und auch die Andachten und Gottesdienste helfen, irgendwie“, sagt er. Ivo wird bleiben. Bei der Verabschiedung sagt er: „Bis zum nächsten Mal.“