Sei bitte still

Dass Babys schreien, ist normal. Wenn sie aber gar nicht mehr aufhören, fühlen sich Eltern überfordert und zweifeln an ihren Fähigkeiten. Dabei müssen sie nicht allein damit fertig werden

von Christina Hertel am 16th Nov 2016

Veröffentlicht: Süddeutsche Zeitung, Mittwoch, 16. November 2016

Felix patscht mit den Händen gegen den Spiegel. Mit großen Augen schaut er sich an. Hinter ihm seine Mutter Marion Schmidt, sie hält ihn fest und guckt so stolz, wie eine Mutter ihren Nachwuchs nur anschauen kann. Ein Bild für einen Erziehungsratgeber. Doch so ist es nicht immer gewesen.Felix, zehn Monate alt, ist ein sogenanntes Schreibaby. Er weinte – auch wenn seine Mutter ihn gerade gefüttert hatte und die Windeln schon längst gewickelt waren. Nachts musste sie manchmal zehn, manchmal 15 Mal aufstehen und nach ihrem Sohn sehen. Fast ein Jahr hielt sie durch, dann konnte sie nicht mehr. Sie hatte nur noch einen Wunsch: schlafen. Schmidt wählte die Nummer der Schreibaby-Ambulanzdes kbo-Kinderzentrums in München.

„Gut machen Sie das“, sagt Margret Ziegler. Sie ist Kinderärztin und leitet die Ambulanz, die mittlerweile seit 25 Jahren besteht. Marion Schmidt wird ein bisschen rot und sagt dann: „Ach, ich weiß nicht.“ Die vergangenen Monate waren für die Familie nicht einfach. Und weil alles so schwer war, möchte Schmidt ihren echten Namen lieber nicht in der Zeitung lesen. In dem Raum, wo sich Felix immer noch mit großen Augen im Spiegel betrachtet, finden die ersten Untersuchungen in der Ambulanz statt. Die Wände sind pastellgelb, die Vorhänge auch. So wie man es sich bei einem Kinderarzt vorstellt. Aber der Raum hat auch etwas von einem Verhörzimmer. Die Wände sind von einer Seite verspiegelt – von der anderen Seite kann man durchschauen. Das Zimmer hinter der Spiegelwand ist voll mit Videokassetten, auf einem Stativ steht eine Kamera. Sie filmt, wie der Arzt das Kind untersucht, aber auch, wie die Mutter mit ihm umgeht. „So können wir ihr hinterher zeigen, was sie alles gut macht“, sagt Ziegler. „Denn Mütter von Schreibabys wissen das oft gar nicht.Es sagt ihnen niemand.“

Etwa 7000 Kinder und deren Eltern wurden in den vergangenen 25 Jahren in der Schreibabyambulanz behandelt und beraten. 1991 eröffnete die Ärztin Mechthild Papoušek die Einrichtung.Damals war das revolutionär:Woanders gab es so etwas in Deutschland kaum. „Die Kinderärzte habendasGanzekritisch gesehen“, sagt Leiterin Ziegler. „Heute sind sie dankbar, denn ein schreiendes Baby macht alle hilflos.“

Familie und enge Freunde haben schon Verständnis – aber Felix in eine Krabbelgruppe mitnehmen? Wo alle anderen süß und still daliegen, ihre Mütter anlachen? Lieber nicht. Stundenlang trägt Marion Schmidt ihren Sohn in der Wohnung herum – die einzige Möglichkeit, ihn irgendwie zu beruhigen. Sie fragt bei ihrem Kinderarzt nach, der tut ihr Problemab. „Wird schon werden, Frau Schmidt.“ Aber im Herbstmerkt sie: Es wird ebennicht. Sie ist am Ende ihrer Kraft – und Felix ist es auch. Er ist zu klein, zu dünn für sein Alter. Schmidt beginnt, selbst zu recherchieren. In einer Zeitschrift liest sie von der Schreibabyambulanz in München. Die Familie wohnt eigentlich in der Nähe von Stuttgart. Wenig später sitzt sie im Auto Richtung Bayern. Drei Wochen wird sie bleiben.

Drei, vier,manchmal fünf Mütter mit ihren Babys sind gleichzeitig stationär in der Schreibabyambulanz untergebracht. „Das sind Fälle, bei denen die Eltern wirklich nicht mehr können oder die Säuglinge nicht zunehmen“, sagt Ziegler. Auch eine psychische Erkrankung der Eltern, zum Beispiel eine Wochenbettdepression, könne ein Grund sein, dass eine ambulante Behandlung nicht reicht. Ein weiteres Problem: „Es kann sein, dass sich Eltern hilflos und von ihrem Baby bedroht fühlen. Sie denken: Es will mich ärgern.“ Die Folgen: Wut, Ärger und am Ende eine beschädigte Beziehung.Bei Schmidt ist das nicht so. Sie war nie wütend auf ihren Sohn, weil er schrie. Doch tatsächlich schütteln Mütter ihr Baby am häufigsten dann zu Tode, wenn es einfach nicht aufhört zu schreien.

Um das zu verhindern, gibt es Dominika Hess. Sie sitzt in der Schreibabyambulanz am Notfalltelefon. Was sie häufig hört: Alle anderen bekommen es hin, nur ich nicht. „Am wichtigsten ist, gleich herauszufinden, ob die Mutter alleine ist“, sagt Hess. Und dann: den Müttern das Gefühl vermitteln, dass es nicht an ihnen liegt, wenn das Kind schreit.

„Wenn Sie nicht mehr können, legen Sie das Kind fünf Minuten hin, gehen Sie aus dem Raum. Das ist in Ordnung, wurde mir gesagt. Davon stirbt das Kind nicht. Wenn Sie es schütteln, schon“, erzählt Mariella Brzosa. So weit ist es bei ihr nie gekommen, doch verzweifelt war die 31-Jährige schon. Als sie und ihre Tochter Liselotte nach der Entbindung aus dem Krankenhaus entlassen wurden, hörte das Mädchen einfach nicht mehr auf zu brüllen, manchmal stundenlang nicht. „Ich stand immer unter Stress, und habe nur darauf gewartet, dass sie gleich wieder losschreit.“ Schlimm war diese Zeit nicht nur, weil Mariella Brzosa an sich selbst zweifelte, sondern auch, weil sie sich fragte: Fehlt dem Kind etwas? In der Ambulanz kümmerten sich dann ein Kinderarzt und ein Psychologe um Tochter und Mutter. „Sie haben mir so eine Last abgenommen, weil sie mir sagten, alles ist gut – ich mache nichts falsch.“ Und noch etwas wurde ihr gesagt, das sie beruhigte: Meistens ist es nach drei Monaten vorbei. Und bis dahin: irgendwie das Kind beruhigen, egal mit was. In Liselottes Fall half schaukeln. „Wir haben eine elektrische Schaukel gekauft, da hat sie dann auch mal vier Stunden am Stück geschlafen“, erzählt Brzosa. Nach drei Monaten war es mit dem Schreien tatsächlich vorbei.

Bei Felix ist das anders. Mit zehn Monaten schreit er immer noch. Hinzu kommt, dass er zuwenig isst. Etwa zwei Kilo fehlen zum Normalgewicht.Im Kinderzentrum diagnostizieren die Ärzte eine Kuhmilchintoleranz – ein möglicher Grund für das Schreien. Die erste Woche auf der Station schlafen Mutter und Sohn getrennt. Die zweite schaut Marion Schmidt den Krankenschwestern zu, wie sie ihren Sohn ins Bett bringen. „Anstatt ihn herumzutragen, haben sie ihn gleich hingelegt und ruhige Worte zugesprochen“, erzählt sie. Mit der Zeit macht Schmidt das auch so. Nach fast drei Wochen, am Ende des Aufenthalts in München, schläft sie wieder mit ihrem Sohn in einem Zimmer.

Langsam wird Felix unruhig. Er zappelt auf dem Arm seiner Mutter herum, sieht plötzlich ein bisschen beleidigt aus. „Er muss ins Bett“, sagt Schmidt. Sie bringt ihn in ihr Zimmer, legt ihn hin. In ein paar Tagen geht es für die beiden nach Hause, dann sind keine Schwestern mehr da, die helfen können. Angst hat sie nicht. „Ich freue mich auf zu Hause.“ Dann schließt sie die Tür. „Bitte Ruhe – Kind schläft“ steht darauf. Tatsächlich. Es ist still.