Plötzlich wieder im Leben

Adam Schulz tötete beinahe einen Menschen. Dafür saß er zehn Jahre im Gefängnis. Jetzt ist er frei und sucht einen Platz in einer Gesellschaft, die er nicht mehr wiedererkennt.

von Christina Hertel am 1st Nov 2016

Veröffentlicht: Deutsch perfekt, Dienstag, 01. November 2016

Fühling 2004. Adam Schulz bekommt Besuch in seinem Atelier. Von einer Freundin und einem Fremden. Alle sind auf Heroin. Alle sind ausgelassen. Dann zieht der Fremde ein Messer aus seinem Stiefel. Er geht auf Schulz‘ Bilder zu, zerschlitzt eines nach dem anderen. Schulz rennt in die Küche, holt ein Messer aus der Schublade. Er rammt es dem Mann in den Hals. Überall ist Blut. Schulz läuft weg. Noch in der gleichen Nacht wird er in der Wohnung eines Freundes gefasst.

Heute liegen Adam Schulz‘ Bilder in einem Keller, irgendwo in München. Er will sie nicht mehr sehen, vielleicht schmeißt er irgendwann alle weg. Im Gefängnis beschloss er, nie mehr einen Pinsel in die Hand zu nehmen. Eigentlich heißt Schulz anders, doch er will nicht, dass sein echter Name hier erscheint. Er will neu anfangen, ein neuer Mensch sein. „Und das ist gar nicht so leicht“, sagt er. Es ist viel passiert in den letzten zehn Jahren und Schulz war nicht dabei. Es hallt ein bisschen, wenn er spricht, denn seine Wohnung ist praktisch leer. Nur ein weißes Regal steht an der Wand. Darin Nietzsche, Platon, Hei¬degger. Bücher, für die man viel Zeit braucht.

Winter 1998, Brasilien. Adam Schulz ist zum Malen nach Rio gekommen. Dort hat er seine Ruhe und genug Platz. Er bleibt ein halbes Jahr und malt jeden Tag abstrakte Bilder, stundenlang.

Er findet bei einer Freundin ein Buch über die Renaissance. Er studiert die Arbeiten von Michelangelo und Leonardo da Vinci. Schulz will so malen wie sie. Es gelingt ihm nicht. Einen Tag vor seinem Rückflug verbrennt er alle seine Bilder. Wieder zu Hause in München geht er nachts durch den Englischen Garten. Er sieht eine Gruppe von Menschen, spricht sie an. Sie verkaufen Heroin. Er will es probieren. Für ihn hat Heroin nichts von Bahnhofsklo. Für ihn ist es Bohème und Geniekult. Schulz‘ Bilder werden jetzt von Tag zu Tag dunkler, irgendwann sind sie komplett schwarz. Es wird immer schwerer, Käufer zu finden. Schulz fängt an, mit Heroin zu dealen.

Seit einem halben Jahr ist Schulz draußen. Er ist heute Ende 40. Seine schwarzen Haare werden an den Schläfen langsam grau. Trotzdem wirkt er jünger. Sein Gesicht ist faltenlos und glattrasiert. Schulz sitzt zurückgelehnt auf einem Polsterstuhl, hält eine Zigarette in der Hand, selbst gedreht. „Ist es okay, wenn ich Musik anmache?“, fragt er. Kurz darauf schallen dunkle Töne aus seiner Stereoanlage, drückend elektronisch. „Ist das nicht geil? Ich hab‘ das so vermisst.“ Im Gefängnis hatte er nur ein Radio. Stundenlang saß er davor und notierte alle Lieder, die er in Freiheit kaufen wollte. Gleich nach seiner Entlassung läuft er zu einem Plattenladen. Doch dort haben sie kein einziges Album, das auf seiner Liste steht. „Haben Sie kein Spotify?“, fragen ihn die Verkäufer. Schulz hat noch nie davon gehört, dass man Musik im Internet hören kann. Er will einfach nur die CDs haben.

Seit Schulz draußen ist, läuft er jeden Tag drei, vier, manchmal fünf Stunden durch München. Was er sieht, verwundert ihn. „Die Menschen gehen durch die Straßen, als hätten sie Scheuklappen auf.“ Keiner sieht den anderen an, keiner zwinkert oder lächelt. In der Tram tippen alle auf Bildschirmen herum, haben Stöpsel in den Ohren. „Ich fühle mich mit den Menschen nicht mehr verbunden“, sagt er. Im Gefängnis war das anders. Dort kennt jeder jeden. Es ist wie ein Dorf. Für Schulz war das oft belastend. Heute fehlt ihm manchmal der Kontakt zu den Menschen.

„Hier war mein Atelier drin. Da ist es auch passiert.“ Schulz deutet auf einen Altbau mit grünlichem Putz, sieben Stockwerke hoch. Das ganze Haus war voller Ateliers, Clubs, kleiner Kinos und Menschen, die sich verwirklichen wollten. „Es war echt wild da drin.“ Heute ist das Gebäude renoviert und Anzugträger gehen ein und aus. Traurig ist Schulz darüber nicht. „Ich bin kein sentimentaler Mensch. Die Dinge gehen eben weiter.“ Ihn stört mehr, dass er die Wirklichkeit nicht mehr zu fassen bekommt. Im Internet findet er zu jeder Nachricht eine Gegennachricht. Ist Putin böse oder nicht? Schulz googelt stundenlang. Danach ist er nicht schlauer als zuvor. Nachrichten sind für ihn wie Tausende Splitter, die sich zu keinem Bild zusammensetzen lassen.

Frühling 2005. Schulz bekommt sein Urteil. 15 Jahre. Versuchter Mord. Sein Opfer verlor mehrere Liter Blut und überlebte nur knapp. „Wenn ich ihn getötet hätte, hätte ich mich umgebracht“, denkt Schulz. Er wird nach Straubing gebracht, wo Bayerns Schwerverbrecher sitzen.

Sein Vater räumt sein Atelier aus. Er schmeißt alles weg. Nur die Bilder, die Schulz schon vorher in den Keller gebracht hatte, bleiben übrig. Im Gefängnis studiert Schulz Kulturwissenschaften. Er schreibt seitenweise Papier voll, oft bis spät in die Nacht. Zuerst mit der Hand, und wenn es ihm die Wärter erlauben, tippt er es an einem Computer ab. Internet gibt es im Gefängnis nicht. Einen Fernseher hat er nicht. Schulz will den anderen nicht beim Leben zuschauen. Nach zehn Jahren wird er entlassen. Es ist Herbst, einer der letzten sonnigen Tage im Jahr. Ein Freund holt ihn mit einem Lieferwagen ab. Gemeinsam tragen sie kistenweise Bücher aus seiner Zelle.

Jetzt sitzt Schulz auf einer Bank in der Sonne und dreht sich eine Zigarette. Er kann seine Tat nicht vergessen. Schulz ist froh, dass er als voll schuldfähig eingestuft wurde, auch wenn er bei der Tat zugedröhnt war. Er will keine Ausreden. Er will nach vorne gucken, aber das fällt ihm schwer. Wenn er Freunde trifft, sagen sie immer, dass sie gerade wahnsinnig viel zu tun hätten. „Ich verstehe nicht, dass plötzlich keiner mehr Zeit hat.“ Ihm kommt es wie ein Ritual vor, das er nicht versteht. Im Gefängnis hatte er unendlich viel Zeit, um über alles Mögliche nachzudenken. Jetzt ist er im Rhythmus der Welt draußen noch nicht angekommen. Sind die anderen hektischer geworden oder er langsamer? Schulz weiß es nicht.

Er hat noch keine Arbeit gefunden, würde aber jeden Job annehmen. Er will wieder dazugehören. Und alle anderen sind beschäftigt. Schulz weiß nicht, wie er eine Arbeit finden soll. In der Zeitung stehen fast keine Anzeigen mehr. Im Arbeitsamt vermittelt ihm die Zentrale eine Ansprechpartnerin. Er soll ihr eine Mail schreiben, bekommt aber keine Antwort. Nach ein paar Tagen fragt er sich, ob sie angekommen ist. Können E-Mails verloren gehen? So wie Briefe? Schulz weiß es nicht. Es gibt kein Gegenüber mehr, keine Mimik oder Stimme, die er deuten kann. Für ihn ist alles ein großes Rätsel.

Seine Gedanken schreibt Schulz auf. Er dreht die Wörter hin und her, überlegt, was sie bedeuten. Was heißt Freiheit? Was bedeutet Gefangenschaft? Zur Zeit beschäftigt ihn vor allem das Wort „scheitern“. Er findet, dass es viel zu oft gebraucht wird. Er liest von gescheiterten Staaten, Freunde erzählen ihm von gescheiterten Ehen und gescheiterten Karrieren. „Selbst, wenn gerade etwas gut ist, muss mitschwingen, dass es böse ausgehen könnte.“ Er hat das Gefühl, dass das früher anders war. Trotzdem hat er lange überlegt, ob er selbst gescheitert ist. Als Mensch, als Künstler. Doch für Schulz ist etwas erst gescheitert, wenn es für immer kaputt ist. „Ich glaube, man sollte sich eingestehen, dass manches nicht geklappt hat“, sagt er. „Und dann sollte man mit etwas anderem weitermachen.“