Eine Geschichte in zwei Teilen


Ehemalige DDR-Bürger, die es in den Landkreis München verschlagen hat, erinnern sich an die Wende mit all den großen Hoffnungen - und an das Ankommen in der Realität

Veröffentlicht: Süddeutsche Zeitung, Montag, 02. Oktober 2017

Ich war nie wirklich frei", sagt der Erste. "In der DDR war nicht alles schlecht", sagt der Zweite. "Es war auch noch lange nicht alles gut", meint der Dritte.

Das ist die Geschichte von drei Männern, die ihre Heimat verließen, um ihr Glück zu finden. Keiner von ihnen wäre freiwillig gegangen. Heute sind sie froh, dass sie es getan haben. Alle drei arbeiten in Rathäusern im Landkreis, in der Verwaltung. Am dritten Oktober, am Tag der deutschen Einheit, werden sie daran denken, wie die Mauer fiel, wie sie das erste Mal in den Westen fuhren, wie es sich wie Weihnachten anfühlte, wie sich eine neue Welt auftat, in der alles glitzerte und bunt war, zumindest zuerst.

Jens Meisner lebt seit fast 20 Jahren im Landkreis. Wenn er spricht, hört man, dass er ursprünglich aus dem Osten stammt, doch das Bayrische schleicht sich immer wieder zwischen die Wörter. Er sagt "net" statt "nischt", trägt Janker und weißes Trachtenhemd. Eigentlich heißt Meisner anders. Seinen richtigen Namen möchte aber nicht sagen. Weil er nicht will, dass er am Ende wie ein "Ostaligiker" wirkt, wie einer, der ein System verteidigt, bei dem es objektiv betrachtet nichts zu verteidigen gibt.

Meisner, 43, kommt aus dem Vogtland in Sachsen, einer Region mit vielen Hügeln und Wäldern, Kurorten und Heilbädern, direkt an der bayerischen Grenze. Seine Eltern hatten eine Antenne auf dem Dach, konnten die "Lindenstraße" empfangen und die "Tagesschau". "Bitte erzähl das nicht in der Schule", sagten die Eltern damals. 1989 fuhr er mit dem Vater nach Leipzig, zum Demonstrieren. Rief "Wir sind das Volk", ohne zu verstehen, was das eigentlich heißen sollte - als 15-Jähriger. Und dann, als dieses Abenteuer vorbei war, als Vater und Sohn wieder zu Hause waren, erzählten sie niemanden davon. "Ich bin nicht unbeschwert aufgewachsen. Ich war nie wirklich frei", sagt Meisner. Gleich nach seiner Ausbildung ging er weg aus Sachsen. Es gab keinen Job für ihn. Er sitzt in einem Besprechungsraum im Rathaus. Außen geht die Sonne unter. Von seinen Kollegen ist keiner mehr da. Einmal kommt kurz die Putzfrau rein. Zwei Stunden wird Meißner erzählen. Als er fertig ist, hat auch sie Feierabend gemacht.

Nach der Bundestagswahl wollen die Medien wieder wissen, was los ist mit den Ostdeutschen. Nirgends hat die AfD mehr Stimmen geholt. In Sachsen ist sie stärkste Kraft geworden. Man sieht wütende Ostdeutsche im Fernsehen. Und westdeutsche Journalisten, die sich fragen, warum. Steht die Mauer in den Köpfen der Leute noch?

Sascha Backhaus weiß auf diese Frage keine Antwort. Aber was er weiß: Die Wende hat nicht nur Gewinner hervorgebracht. Keine Entschuldigung für diese Wut, aber vielleicht eine Erklärung. Backhaus leitet das Bauamt in der Gemeinde Hohenbrunn. Er ist Ende 30, versprüht großen Optimismus und Tatendrang. Man kann ihn sich nicht wütend vorstellen oder auch nur schlecht gelaunt. Backhaus kommt ursprünglich aus Eisenach in Thüringen, wo die Wartburg steht. 1817 prostestierten Studenten dort gegen die reaktionäre Politik der Fürsten und forderten einen deutschen Nationalstaat. Ein Bild der Wartburg hängt in Backhaus' Büro im zweiten Stockwerk des Hohenbrunner Rathauses. Es ist für ihn eine Erinnerung an die Heimat, aber auch ein Symbol für die Einheit.

Backhaus sagt, dass er in Hohenbrunn endlich eine Chance bekommen habe, aufzusteigen, etwas aus seinem Leben zu machen. Zuvor in Eisenach hatte er einen schlecht bezahlten, befristeten Job nach dem nächsten. Vor drei Jahren las er dann eine Anzeige im Thüringer Staatsanzeiger. "Hohenbrunn - noch nie gehört." Er bewarb sich trotzdem.

Die Wiedervereinigung ist für Backhaus und für Meisner eine Geschichte mit zwei Teilen. Teil eins: die große Freude, die Aufbruchsstimmung. Wie Meisner das erste Mal in einem Schallplattenladen stand. Wie er das erste Mal die "Praline" kaufte, ein Erotikheftchen. Wie im Supermarkt die Menschen vom Eingang bis zur Kasse standen. Wie Backhaus am 10. November 1989, als er morgens zur Schule lief, ein Lichtermeer in der Ferne sah - Autos, die alle Richtung Westen fuhren. Wie am 3. Oktober 1990 in Eisenach die Deutschlandfahnen aus den Fenstern hingen. Wie es ein Feuerwerk gab. Silvesterstimmung.

Teil zwei: die große Ernüchterung. Backhaus' Eltern verloren beide ihre Arbeit. "Nach 25 Jahren hieß es plötzlich: Sie können nach Hause gehen", erzählt er. Der Vater arbeitete in einer Ziegelei, die Mutter bei Fahrzeugtechnik Ruhla. "Sie fanden dann wieder etwas, aber es war keine Arbeit, die sie wirklich wollten, sondern eine, die unsere Existenz sicherte." Fast die Hälfte der Klasse war plötzlich weg - im Westen. Dabei sei seine Kindheit schön gewesen. Obwohl es nicht alles gab, habe er nichts vermisst. Später gingen vor allem die Frauen. Und heute haben die meisten von Backhaus' Kumpels keine Freundin, keine Kinder. "Es ist deprimierend, wenn man heute durch den Osten läuft, man sieht nur alte Leute."

1991 schrumpften die sogenannten "Neuen Bundesländer" um etwa 170 000 Menschen, weil so viele in den Westen zogen, aber umkehrt nicht so viele kamen. Bis 2015 war es ein Minus von ungefähr einer Million. Im Hohenbrunner Rathaus stammt heute ein Drittel der Mitarbeiter aus Ostdeutschland. Einer von ihnen ist Andreas Krieg, der kaufmännische Werksleiter. Er ist Anfang 50 und kommt aus Sachsen-Anhalt. Auch er hat sich eine Erinnerung an seine Heimat an die Wand gehängt. Eine Karte von den Bergbau- und Kupferhütten, die es dort einmal gab. Er kann diese ganze Nostalgie rund um die DDR nicht verstehen. "Wenn die Leute sagen, es war nicht alles schlecht, antworte ich: Aber es war noch lange nicht alles gut."

Natürlich sei man in der DDR freundlicher zu einander gewesen - weil der andere vielleicht etwas hatte, an das man selbst gerade nicht herankam. "Es war eine Notgemeinschaft. Und diese Wärme, von der immer alle sprechen, ist nach der Wende ganz schnell erkaltet. Weil es nie eine echte Wärme gab." Am Ende sei sich jeder selbst der Nächste gewesen. Obwohl Krieg 2013 arbeitslos wurde, in Sachsen-Anhalt keine Stelle fand, und schließlich nach Hohenbrunn zog, sieht er sich als Gewinner der Wende. Weil er die Freiheit genießt. Die Freiheit der Wahl, der Reise. Die Freiheit, das Beste aus dem Leben zu machen.

Die Stimmung, die gerade im Osten herrscht, macht Krieg Sorgen. Einmal sei er nach Leipzig gefahren zu einer Pegida- Demonstration. Er wollte wissen, was da los ist. "Die Leute sind nur dagegen." Würden aber nicht selbst an der Lösung ihrer Probleme arbeiten. Und das stört ihn am allermeisten.

Die DDR und die Jahre nach der Wende haben die drei Männer geprägt. "Ich bin willensstärker", sagt Sascha Backhaus. "Weil ich mehr für mein Glück kämpfen musste." "Ich bin sparsamer als andere", sagt Jens Meisner. "Weil man in der DDR nie wusste, wann es etwas zu kaufen gab. Deshalb musste man sein Geld immer bis zum richtigen Moment aufheben." Und Andreas Krieg weiß, wie sich anfühlt, das Vertrauen zu verlieren. Ein paar Jahre nach der Wende fand er heraus, dass sein bester Schulfreund bei der Stasi war - durch Zufall bei einem Klassentreffen. Eigentlich wollte er das gar nicht wissen, er schaute sich seine Akte nie an. Das Gefühl, als er das erfuhr? Er kann es nicht beschreiben. Darauf angesprochen hat er den Freund nie. Kontakt haben sie keinen mehr.