Backzeit

Typisch Advent: Jetzt kommen in deutschen Küchen wieder die vielen Plätzchen aus den Ofen. Warum aber backen die Deutschen gerade vor Weihnachten so fleißig?

von Christina Hertel am 1st Dec 2016

Veröffentlicht: Deutsch perfekt, Donnerstag, 01. Dezember 2016

Eigentlich fing alles ganz harmlos an. In meiner Kindheit beschränkte sich die Zeit, in der bei uns Zuhause gebacken wurde, vielleicht auf zwei, drei Tage im Advent. Es gab Butterplätzchen, aber ohne Glasur, ohne Streusel, ohne Schnickschack und Vanillekipferl. Das war’s. Seitdem wir Kinder groß sind, sieht die Lage allerdings ganz anders aus. In der Speisekammer stapeln sich die Plätzchendosen bis Fasching. Vergangenes Jahr hat meine Mutter einen neuen Rekord aufgestellt. Zwanzig verschiedene Sorten. Kokosmakronen, Spitzbuben, Florentiner. Plätzchen mit Zuckerglasur, Plätzchen mit Marzipan, Plätzchen mit Schokolade, Plätzchen mit Marmelade. Mit der Liste könnte man wohl die Seite füllen. Jedenfalls kommen die dann alle auf einen großen Teller und jeder pickt sich die heraus, die er am liebsten hat. Übrig bleiben Jahr für Jahr die etwas zu trocken geratenen Butterplätzchen. Manche Familien fangen erst an Heilig Abend mit dem Essen an. Wir nicht, zum Glück. Sonst gäbe es zu Pfingsten wahrscheinlich immer noch Zimtsterne.

Während der Weihnachtszeit haben die Menschen die offizielle Erlaubnis ein bisschen kindisch zu sein, egal wie alt sie sind. Sie können das ganze Haus voller Weihnachtsmänner, Tannenzweige und Engel hängen – es stört niemand. Oder sie können kiloweise Plätzchen backen. Für die Kinder machen das die Erwachsenen nicht – auch, wenn sie es vielleicht gerne sagen. In Wirklichkeit machen sie es für sich selbst. Warum? Einfach, weil es ihnen Spaß macht, wäre wohl die einfachste Antwort. Zu einfach, vielleicht.

Beim Plätzchenbacken ist die ganze Küche warm, es riecht nach Teig und Kindheit. Aus dem Radio säuselt Mariah Carrey: „All I want for Christmas is you“. Jedes Jahr von Neuem, trotzdem summt man immer wieder mit. Außen ist es dunkel, Schnee rieselt vom Himmel. Eigentlich gibt es nur ein Wort, um das Ganze zu beschreiben: gemütlich. Und diese Form der Gemütlichkeit haben die Leute wiederentdeckt, so scheint es. Plätzchenbacken – früher die Aufgabe von Großmüttern und Hausfrauen – ist wieder heute modern. In München gibt es Plätzchenbackkurse, von Mitte November bis Mitte Dezember. Manchmal sind diese Kurse schon Wochen vorher voll. Obwohl heutzutage beim Bäcker und im Supermarkt Plätzchen in allen möglichen Variationen erhältlich sind, machen die Leute offenbar lieber ihre eigene Küche dreckig. Allerdings stricken die Menschen auch wieder, obwohl die Wolle dafür teurer ist als der fertige Pullover aus dem Geschäft. Und sie kochen wieder Obst und Gemüse aus dem Garten ein, obwohl es im Supermarkt das ganze Jahr über Äpfel und Tomaten zu kaufen gibt. Man könnte fast meinen, es sei eine Art neues Biedermeier angebrochen, eine neue Rückbesinnung auf das Häusliche.

In den Buchhandlungen stehen schon seit Herbst große Tische nur voller Backbücher. „Rezepte aus Omas Backstube“, „Himmlisch lecker und bezaubernd süß“, „Landfrauen begeistern mit ihren Lieblingsrezepten“, „Vegane Plätzchen für Winter und Weihnachten“. Auf Youtube erklären Mädchen, die höchstens 16 Jahre alt sind, wie man pinkfarbene Plätzchen zu Stande bekommt. Sorten gibt es unzählig viele, jedes Jahr ein paar mehr. Allerdings, so scheint es auch, immer wieder nur als Variation des längst Bekannten. Es gibt Plätzchen aus Eischnee – die Makronen und aus Mürbeteig – die Butterplätzchen. Es gibt Spritzgebäck, Blätterteigplätzchen, Lebkuchen. Dazu kommen Aromen wie Zimt, Schokolade, Vanille, Orange. Der Teig wird entweder mit Formen – zum Beispiel Herz, Stern oder Taler – ausgestochen oder mit der Hand geformt und anschließend mit Marmelade oder Marzipan belegt. So wie es einem eben schmeckt. Ein Plätzchen wird allerdings erst durch ein Merkmal zum richtigen Plätzchen: Es wird ausschließlich im Advent gebacken und in keiner anderen Jahreszeit sonst. Warum aber backen die Deutschen gerade zu Weihnachten so fleißig?

Plätzchen gibt es im Prinzip seit Jahrhunderten. Schon die alten Ägypter und Römer buken kleine Kuchen – als Opfergabe. Denn Tiere zum Opfern besaßen längst nicht alle – also wurde es sozusagen nachgebaut. Der Göttin der Jagd zum Beispiel wurde ein Gebäck in Form eines Hirsches dargebracht. Statt Zucker wurde damals Honig zum Süßen verwendet. Später, in den christlichen Klöstern wurde diese Art zu backen übernommen. Es entstanden so genannte Honigkuchen, die den Lebkuchen, die heute auch oft mit auf dem Plätzchenteller liegen, ganz ähnlich sind. Zucker kam erst mit den Kreuzzügen nach Europa. Lange war er so teuer, dass heute selbst Könige fassungslos vor den Supermarktregalen stehen würden. Ein paar Cent für ein Kilo – damals unvorstellbar. Das änderte sich erst im19. Jahrhundert, als die Menschen in Europa lernten, dass sie Zucker nicht mehr aus Syrien oder Ägypten importieren mussten, sondern auch aus Rüben im eigenen Land gewinnen konnten. Jetzt war Zucker nicht mehr nur den Adeligen am Hofe vorbehalten. Das „weiße Gold“, wie man damals sagte, verbreitete sich auch im Bürgertum. Während die Männer ausgingen, um Süßigkeiten zu essen, ins Kaffeehaus zum Beispiel, trafen sich die Frauen Zuhause bei Kaffee und Kuchen. Das Kaffeekränzchen war geboren. Der Stolz der Hausfrau war ihr edles Porzellan – und ihre kleinen Gebäckstücke. Um zu zeigen, was sie alles kann, buk sie nicht einen Kuchen, sondern viele kleine Teile. Etwa zu der gleichen Zeit kam noch etwas in Mode, das heute gar nicht mehr wegzudenken ist: der Weihnachtsbaum. Von Deutschland aus verbreitete er sich in der ganzen Welt. Geschmückt wurde der Baum damals mit Gebäck – den Plätzchen. Erst als sich die Bürger neuen Schmuck aus Glas, Wachs oder Zinn leisten konnten, wanderten sie zurück auf den Teller.

Dass die Leute nun im 19. Jahrhundert begannen, Weihnachten zu feiern – mit Baum, Plätzchen, Geschenken, schöner Dekoration – hat auch etwas damit zu tun, dass man damals Kinder erstmals als eigenständige Wesen betrachte. Die Erwachsenen fingen an, sich mit ihnen zu beschäftigen. Und sie wollten ihnen eine Freude bereiten. Bemerkbar macht sich das in der Sprache. Die Schwaben sagen zu Plätzchen zum Beispiel Gutsle, eigentlich ein Kinderwort für Süßigkeit, doch es bürgerte sich bei den Erwachsenen für das Weihnachtsgebäck ein. Auch in anderen deutschsprachigen Regionen haben Plätzchen die verschiedensten Namen: Plätzla in Franken, in Platzerl in Oberbayern, Breedle in Baden, Guetzli in der Schweiz und Kekse in Österreich. An dieser Aufzählung merkt man schon: Plätzchen sind eher im Süden Zuhause. Tatsächlich ist dort die Vielfalt von alten Rezepten größer. Vielleicht liegt das daran, dass früher die Gewürze von Persien über Griechenland nach Italien und von dort nach Deutschland kamen. Ob man diesen Unterschied mittlerweile noch merkt? Wahrscheinlich nicht. Überall in Deutschland werden Plätzchen gebacken – zum Verschenken oder selber Essen. Die Vielfalt wird immer größer, auch weil Zucker, Gewürze, Formen viel billiger sind als früher. Wenn mal ein Blech verbrennt, ist das zwar ärgerlich, aber kein Weltuntergang. Die Menschen experimentieren mehr. Bei dem Plätzchenbackkurs in München stehen dieses Jahr zum Beispiel Eierlikör-Kokos-Trüffel, Nuss-Marzipan-Taler, Mohnbissen oder Nougat-Creme-Sterne auf dem Programm. Meine Mutter will sich dieses Jahr auch wieder an ein paar neue Rezepte wagen. Dabei ist es Jahr für Jahr das gleiche Spiel: Als erstes ist dann doch die eine Sorte weg, die alle von klein auf kennen: die Vanillekipferl – halbmondförmig aus Mehl, Butter, Zucker und geriebenen Mandeln.